Leseprobe
Ich steckte in meinem dicken Pullover fest und kämpfte gerade mit dem Ärmel, als die Zimmertür mit Kawumm gegen die Wand krachte.
„Et voilà, Nero, dein Zimmer.“ Die Stimme des Hotelinhabers erkannte ich sofort.
„Was ist … das da?“, knurrte eine dunkle, sehr tiefe Stimme, die mir eine Gänsehaut verursachte. Ob auf die gute oder schlechte Art, konnte ich nicht sagen.
Hektisch kämpfte ich mich durch die Wolle, bis Arm und Kopf aus dem jeweils richtigen Auslass herausschauten. Rasch fuhr ich mir mit beiden Händen durch die Haare, bevor ich die Augen aufriss … und erstarrte.
Vor mir stand die heißeste Ausgeburt der Hölle, die ich je gesehen hatte. Darf ich an diesen besinnlichen Tagen ‚Hölle‘ denken? Mein Hirn fand darauf keine Antwort, weil es zu sehr von der imposanten Gestalt vor mir in Beschlag genommen war: Von dem riesigen Kerl mit dem tiefschwarzen Haar und den dunklen Augen, die ein kantiges Gesicht mit deutlichem Bartschatten beherrschten und mich argwöhnisch musterten. Tätowierungen krochen aus den Ärmeln des maßgeschneiderten Jacketts bis zu den Fingernägeln und schlängelten sich oben aus dem Kragen über den Hals bis zu den Ohren. Selbst im düsteren Gesicht tropften fünf schwarze Tränen aus einem Augenwinkel.
Nero! Der Name war Programm. So stellte ich mir einen Gangster oder Mafioso vor.
Mit verkniffener wütender Miene starrte der Hüne unverwandt auf mich herab.
Schlagartig kam ich mir in meinem grauen Weihnachtspulli mit Schneemann drauf total dämlich vor und war heilfroh, nicht den mit Rudolf und der roten Blinknase gewählt zu haben. Der würde hier niemals das Tageslicht entdecken, so viel stand für mich in diesem Augenblick fest. Hatte ich noch irgendwas Unauffälliges dabei? Keine Ahnung. Beim Durchschauen meiner Klamotten im Schrank hatte ich vor allem Buntes entdeckt. Offenbar war ich nicht in der Lage, mir dezente Kleidung herbei zu träumen. Vielleicht wurde mein Traum gerade zum persönlichen Alptraum!?
Stell dich endlich vor! „O-Oh, hi, ich bin Jaro, zweiundzwanzig und studiere Literaturwissenschaft. Du bist N-Nero, richtig?“ Ich streckte dem finsteren Mann, dem VERY BAD BOY aus jeder noch so winzigen Pore troff, die Hand hin. Doch er starrte sie nur an wie einen Schleimpfropf, einen ganz tief hochgeholten, fetten, grünen. Oder alternativ eine supersüße Marzipankartoffel, denn ich glaubte nicht, dass Nero auch nur irgendwas mit Weihnachten am Hut hatte.
Prompt zog er die dunkle Augenbraue, die von einer Narbe geteilt wurde, in die Höhe, machte aber weiterhin keine Anstalten, meine Finger zu ergreifen. Unberücksichtigt fiel meine Hand wie ein toter Fisch wieder an meine Seite. Zumal die Pranke des Kerls besetzt war. Hielt er dort eine Pistole? Für eine Sekunde meinte ich in einen metallischen, schwarzen Lauf zu schauen …

