Leseproben

"Bittersüßer Nachtschatten - Gift der Vergangenheit" ist der erste Band der Benner-Hunter-Dilogie und sollte unbedingt vor dem zweiten Band "Bittersüßer Nachtschatten - Weg ins Licht" gelesen werden.


LESEPROBE 1:
„Kannst du mir mal erklären, warum die verschlossen ist?“ Aufgebracht stieß Lucian die Tür auf, sobald sie sie nur einen Spalt geöffnet hatte. Das Türblatt krachte laut gegen die Wand. „Und was DU …“ Dann brach er ab. Er wusste mit absoluter Sicherheit, dass sie etwas gemacht hatte. Verfluchtes Weibsstück! Fast hatte er die Kontrolle verloren - was extrem gefährlich wäre.
Aber er konnte sie schlecht fragen, ohne sich zu verraten.
Also schluckte er alles Weitere hinunter. Er konnte es sich auch so denken. Es gab nicht viele Sachen, die ihn trotz Spritzen der Kontrolle berauben konnten. Der Kontrolle, die absolut notwendig war, nicht nur für ihn, sondern für alle. Eine davon war Alkohol.
Mascha wich etwas zurück. „Ich hab’s für sicherer gehalten“, sagte sie scheinheilig. „Alles in Ordnung bei dir?“
„Ja!“, antwortete er barsch. Misstrauisch beäugte Lucian Mascha. „Wieso fragst du?“ Was hielt sie denn da hinter dem Rücken? Er konnte es sich denken: ein Messer. Jetzt langte es. „Leg das weg!“, befahl er. Drohend baute er sich vor ihr auf. „Du hast keine Chance gegen mich“.
„Weißt du, Lucian“, sie nagte an ihrer Unterlippe und schaute ihn mit einem unschuldigen Augenaufschlag an. „Ich mag ja im Moment schlecht zu Fuß sein, aber mit Messern kann ich immer noch hervorragend umgehen.“ Mit diesen Worten holte Mascha es hinter ihrem Rücken hervor. „Auch über eine größere Distanz.“ Ihre Augen blitzten herausfordernd. „Willst du es testen?“
Zum Henker!!! Lucian stand kurz davor, sich auf sie zu stürzen und ihr das Messer wegzunehmen.
Nur nicht die Kontrolle verlieren! Er biss die Zähne so fest zusammen, dass die Sehnen an seinem Hals wie Drahtseile hervortraten. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, bis die Knöchel weiß wurden. Pech nur, dass er eine Hand um die Kante des massiven Eichentisches gelegt hatte, denn plötzlich knackte es und die Ecke splitterte. Er stand noch ziemlich unter Strom von der zurückliegenden Nacht. Verflucht, er brauchte dringend die Spritze.
Lucian spürte, wie Mascha zuerst ungläubig die kaputte Tischkante und dann ihn anstarrte.
Fuck, wo war die Scheiß-Spritze? …


Noch nicht genug, es darf noch ein bisschen mehr sein?

LESEPROBE 2:
EINS
Hinter ihr hupte jemand ungeduldig. Mascha schrak aus ihren Gedanken, in denen sie ähnlich einer alten Schallplatte an einer Stelle festhing - wieder mal. Oh … die Ampel … Grün … Los, Gas geben! Heftig drückte sie das Gaspedal durch.
Mann … Irgendwann musste das doch aufhören! Sie wusste nicht mal, wie sie die letzten 20 Minuten der Fahrt bis hierhin geschafft hatte.
Von ihren eigenen Hirngespinsten wurde ihr ganz schwindelig. Wenn sie nicht aufhörte, sich gedanklich wie ein Kreisel zu drehen, dann hieß es bald … welcome back in der Klapse.
Vier Jahre Psychotherapie für den Arsch … Es half einfach nicht.
Heute war ein mieser Tag. In der Regel hatte sie die Wahl zwischen ziemlich schlechten und ganz beschissenen Tagen. Heute traf die zweite Kategorie zu.
Zwar war sie nicht mit ihrem immer wiederkehrenden Alptraum aufgewacht, dafür aber mit dem schönen Traum von Maik.
Das war noch schlimmer.
Immer wenn sie danach erwachte, konnte sie sich kaum aufraffen, weil dann eines ganz klarwurde: Er war für immer weg und sie allein.
Als sie heute Morgen begriff, dass es nur ein Traum war, hatte sie dieselben höllischen Schmerzen wie an dem Tag vor vier Jahren gehabt. Als würde ihr das Herz aus der Brust gerissen. Das Ziehen war fast unerträglich. Jeder Atemzug brannte wie Säure in der Lunge.
Ihre Beine hatten geschmerzt, als hätte sie den Mount Everest bestiegen. Sie wäre fast auf die Nase gefallen, als sie zum Klo taumelte, um sich dort zu allem Überfluss noch mal 'alles durch den Kopf gehen zu lassen'. Sie konnte nichts dagegen tun. Ihr Magen entwickelte dann ein ätzendes Eigenleben und krempelte ihr Innerstes nach außen … Im wahrsten Sinne des Wortes … Sie kotzte sich die Seele aus dem Leib.
Es war genau wie damals.
Mistwetter! Missmutig blinzelte Mascha in den grauen Himmel. Regen nieselte auf ihre Frontscheibe. Was für ein beschissener Tag. Super, jetzt erklang auch noch „My Immortal" von Evanessance aus den Boxen. Wie passend!
Maik war jetzt vier Jahre tot. Heiß brannten ihre Augen. Reiß dich gefälligst zusammen, alte Heulsuse. Denk an den heutigen Tag, an das, was du tun musst. In ihrem Kopf ging sie die To-do-Liste durch.
Das Einzige, was ihr Halt gab, war ihr Beruf. Sie war mit Leib und Seele Lehrerin an einem Berufskolleg. Zumindest war sie das seit den letzten vier Jahren.
Ihr Entschluss stand heute wie damals fest, als sie ihn an Maiks Grab gefasst hatte. Nie wieder würde sie sich von ihrer Besonderheit und der damit verbundenen Berufung lenken lassen. Dieser Teil ihres Lebens war endgültig abgeschlossen. Sie hatte alle entsprechenden Kontakte abgebrochen - wirklich alle. Und das würde auch so bleiben. Ganz sicher.
Seitdem stürzte sie sich nur noch in ihre Arbeit an der Schule. Dieser Job gab ihrem Leben eine Struktur und zwang sie morgens zum Aufstehen. Das Einzige, was ihr Weiterleben sicherte.
Wochenenden waren ganz schlimm …
Es gab nur eine Ausnahme, die sie aus ihrem alten Leben nicht aufgegeben hatte. Fast jeden Abend in der Woche trainierte Mascha. Sie liebte das Training. Es hielt sie fit. Ihre Physis war extrem gut - okay, das war auch naturbedingt.
Weiter auf den Parkplatz starren, bringt nichts! Aussteigen!
Ergeben zuckte Mascha die Schultern und blies sich eine Ponysträhne aus der Stirn. Seufzend kletterte sie aus dem Wagen, um ihre ersten beiden Unterrichtsstunden in Angriff zu nehmen.

In der Pause schlenderte Mascha über den Schulhof, Aufsicht führen. Mann, war ihr warm. Es war gerade erst Anfang März. Wie sollte das erst im Sommer werden?! Aber das war nichts Neues. Deshalb hatte sie sich heute trotz Nieselwetter für ein T-Shirt und eine leichte eng geschnittene Softshell-Weste entschieden.
Als sie um die Ecke des Gebäudes bog, machte es Klick in ihrem Gehirn, als hätte jemand auf einen Knopf gedrückt. Und zwar den Knopf „Gefechtsmodus“.
Ihr ganzer Körper vibrierte wie unter Strom. Alle Muskeln spannten sich an, ihre Sinne schärften sich - wie bei Bionic Woman oder so. Ihr Gehirn erfasste die Situation vor ihr mit einem einzigen Blick.
Großer blonder Kerl, circa 20 Jahre, hockte auf deutlich Schmalerem. Und um den Schmaleren stand's nicht gut.
Den Schmalen kannte Mascha privat vom Training. Kevin, 16 Jahre, konnte ziemlich gut Tae-Kwon-Do - eigentlich. Jetzt blutete er aus diversen Kopfwunden.
Drum herum Gaffer, alles Schüler. Manche erschrocken, andere grölten.
Blondie würgte Kevin mit seiner rechten Hand. Zeitgleich hob er mit links Kevins Kopf an und knallte ihn auf den Boden.
Es gab ein sattes Knacken, ein sehr unschönes Geräusch für Maschas Geschmack.
Jetzt riss der Große Kevins Kopf erneut hoch. Im selben Moment versuchte ihr Kollege Michael, den Hünen von Kevin herunter zu zerren. Falscher Ansatz!
Als Antwort schoss Blondies linkes Bein aus der Hockposition hervor und traf Michael seitlich am Knöchel.
Zeitgleich krachte Kevins Kopf wieder auf den Boden.
Michaels Augen weiteten sich fassungslos. Sein Bein gab nach. Mit einem entsetzten Keuchen fiel er um wie ein Baum. Sein Kopf kollidierte mit dem Boden und er verlor das Bewusstsein.
Schlagartig herrschte Totenstille auf dem Schulhof.
Das Ganze hatte vielleicht drei, vier Sekunden gedauert.
Und wieder hob Blondie Kevins Kopf …
Das reichte! Wut kochte heiß in Mascha hoch. Lautlos rannte sie auf den Hünen zu, ballte die Hand zu einer Faust und spreizte den Daumen leicht ab.
Der Lulatsch hörte sie nicht und konnte sie auch nicht sehen, da sie sich in seinem Rücken befand. 
Nur zwei Sekunden später bohrte sie mit einem kurzen harten Stich ihren Daumen in den Vitalpunkt der Achselhöhle seines Arms.
Augenblicklich versagte Blondies Arm den Dienst. Er konnte Kevins Hals nicht mehr festhalten … Was leider einen weiteren ‑ wenn auch etwas sanfteren - Zusammenstoß von Kevins Kopf und dem Boden zur Folge hatte. Aber daran ließ sich nichts ändern.
Der große Kerl schnellte herum, nahm Angriffshaltung ein und taxierte Mascha wütend. Für eine Sekunde wirkte er leicht verwirrt. Anscheinend hatte er mit irgendeinem Schrank von Typ gerechnet und nicht mit Mascha - einer knapp 1,70 Meter großen, schlanken Blondine mit Pferdeschwanz.
Hatte der einen Knall? Der Typ hatte ernsthaft vor, sie anzugreifen. Mascha konnte es kaum fassen. Offensichtlich kannte er keine Skrupel. Aber das hatte er ja auch schon bei Michael und Kevin bewiesen. Nein, es überraschte sie nicht wirklich.
Aus den Augenwinkeln sah Mascha ihren Kollegen Lars herbeieilen. „Stopp, Lars!" Warnend schnellte ihre Handfläche in seine Richtung. „Bleib da. Den habe ich im Griff. Hol die Polizei und zwei Krankenwagen.“ Keine Sekunde ließ sie Blondie aus den Augen.
Lars rührte sich nicht.
„Sofort!“, knurrte sie.
Mascha nahm wahr, wie Lars sich zögernd in Richtung Eingang in Bewegung setzte. Gut, damit war er außer Reichweite und außerdem kam dann hoffentlich bald Unterstützung.
„Hör auf! Mach es nicht noch schlimmer“, zischte sie dem Blonden zu, der sich ihr langsam näherte. Mascha wich zurück, weg von Kevin, um den Lulatsch fortzulocken.
Der Kerl hob beide Arme - anscheinend ließ das Taubheitsgefühl nach - und ballte die Fäuste. Dann schoss er auf Mascha zu wie ein Güterzug.
Sie sah seine linke Faust kommen. Er war echt schnell, aber sie war noch schneller. Locker tänzelte sie zur Seite. Überraschung!
Blondie lief ins Leere und seine eigene Wucht riss ihn fast von den Socken. Er stolperte, fing sich aber wieder. Das ließ 
Maschas Mundwinkel, trotz des Ernstes der Lage, für eine Sekunde spöttisch zucken. Weiter unternahm sie nichts, obwohl ihr ganzer Körper vor Anspannung und Wut kribbelte. Auch ihr Gesicht versteinerte wieder.
Sei ein Vorbild, rief sie sich zur Räson. Schließlich war sie Lehrerin! Sie konnte ja schlecht auf einen im Prinzip Wehrlosen einprügeln - auch wenn dieser Typ in den Augen anderer vielleicht nicht wehrlos war. In ihren war er das. Er hatte ja keinen Schimmer, mit wem er sich gerade anlegte.
Lediglich die weiß hervortretenden Knöchel ihrer geballten Fäuste verrieten, dass sie angespannt war. Und das Zucken in ihrer Wange, als sie die Kiefer aufeinanderpresste.
Erneut versuchte sie zu ihm durchzudringen. „Lass es! Was auch immer dein Problem ist, so machst du es nicht besser.“
Ihr Gegenüber spuckte ihr vor die Füße und knurrte einen Fluch. Dann lief er einen neuen Angriff. Wieder kam seine Linke.
Mascha drehte nur leicht den Kopf weg. Sie spürte, dass seine Faust nur eine Ablenkung war, denn in diesem Moment schoss seine gerade Rechte vor. Mascha blockte mit gekreuzten Armen. Der Schlag war heftig und würde ihr ein paar blaue Flecke auf den Unterarmen einbringen … vielleicht.
Blondie zog die Hand zurück und ließ die Linke wieder vorschnellen.
Blitzschnell umfasste Mascha seine Faust. Obwohl sie zwar nur schlanke, wenn auch lange Finger hatte, wohnte ihnen eine enorme Kraft inne. Sie hatte keine Probleme, die große Faust des Hünen zu umschließen und festzuhalten. Dann drehte sie sich unter seinem Arm durch. Dabei bog sie dem Kerl den Arm auf den Rücken und riss seine Hand so weit nach oben, dass Blondie sich fast mit seinen Fingerknöcheln am Kopf kratzen konnte. Durch den Schwung wurde sein Arm beinahe aus dem Schultergelenk gekugelt. Er brüllte. Der enorme Druck auf die Gelenke im Arm erhöhte sich, als er versuchte, sich zu bewegen. Mascha ließ den unbarmherzigen Druck kein bisschen nach.
„Du hast die Wahl“, sagte sie trocken. „Bewegst du dich, kannst du dir aussuchen, ob sich dein Ellbogengelenk auch noch verabschiedet, oder du bewegst dich nicht und gibst endlich Ruhe, dann bleibt es dir erhalten.“
Augenblicklich stellte Blondie jede Bewegung ein. Gute Wahl, einen Rest Grips hatte er also doch noch! Nur aus seinem Mund kamen noch wimmernde Laute.
Als Mascha ihre Konzentration von ihm löste und aufblickte, schaute sie in die Gesichter sprachloser Schüler und Kollegen. Na, das hatte ihr gerade noch gefehlt. Schließlich entdeckte sie Lars.
Er starrte sie fassungslos an. Dann schluckte er. „Die Polizei kommt, ebenso wie der Krankenwagen."
Jetzt erst bemerkte sie, dass sich zwei im Berufskolleg beschäftigte Ärztinnen um Michael und Kevin kümmerten.
Das Blut oder besser Adrenalin rauschte durch ihre Ohren. Mascha atmete tief ein und aus und zwang sich zur Ruhe. „Ich halte unseren Freund hier fest, bis die Polizei da ist. Es wäre nett, wenn ihr bestätigen könntet, dass ich den Typ hier nur in Notwehr angefasst habe.“
Die Kollegen nickten.
„Zwei bleiben bei Mascha. Am besten Lars und Tanja. Wir anderen bringen die Schüler rein“, sagte Richard, ein weiterer Kollege.
Mittlerweile war Herr Mertin zur Stelle, der Schulleiter. Der Einzige, der zumindest ansatzweise wusste, was Mascha bis vor vier Jahren nebenher getrieben hatte. Sie hatte ihn ins Vertrauen ziehen müssen, da sie an manchen Tagen ihren Unterrichtspflichten nicht hatte nachkommen können. Auch wenn er nicht den Hauch einer Ahnung der ganzen Tragweite hatte, so wusste er doch, dass sie neben ihrem Lehrerdasein eine Art Doppelleben geführt hatte und für eine andere Firma als Spezialistin für besondere Einsätze tätig war. Er vermutete, dass sie so etwas wie eine Agentin war. 
Jetzt musterte Mertin Mascha unergründlich. „Gott sei Dank ist Ihnen nichts passiert.“

                                                                                                                                                +++
Er hatte die grünäugige Blondine beobachtet, wie sie den blonden Hünen in seine Schranken gewiesen hatte. Schlecht war sie nicht, im Gegenteil. Und sie hatte die Anmut einer Raubkatze. Von seinem geparkten Mietwagen aus hatte er einen guten Blick auf den Schulhof. Offensichtlich waren die Angaben seines Auftraggebers doch korrekt. Er musste zugeben, dass er bis gerade gedacht hatte, dass sein Job - mal wieder - ziemlich langweilig wäre, aber vielleicht ja doch nicht …
                                                                                                                                                 +++

Mittlerweile saß Mascha allein im Lehrerzimmer, die Stirn in die Hände gestützt. Die Polizei hatte den Blonden in Empfang genommen. Sie hatte ihnen die Verwunderung deutlich ansehen können. Na ja, deren Problem, wenn sie sie falsch einschätzten, nur weil sie schlank und kleiner als ihr Gegner war.
Dann hatten sie ihre Personalien und Aussage aufgenommen, ebenso wie diverse Zeugenaussagen von Lehrern und Schülern, die alle ihre Aussage bestätigt hatten.
Ihr Chef hatte sie für zwei Stunden freigestellt, damit sie sich von dem Schreck erholen konnte, wie er es nannte. Sie wusste nicht, ob sie sich darüber freuen sollte oder nicht.
Als das Adrenalin aus ihrem Körper wich, war sie unendlich erschöpft, aber nicht, weil sie nachträglich Angst bekam. Sondern weil sie aufgewühlt war, da seit Jahren verborgene Erinnerungen und Gefühle an die Oberfläche drängten. Mascha seufzte.
An den Schritten hinter sich erkannte sie Lars, einen ihrer liebsten Kollegen. Sie waren zeitgleich an der Schule angefangen. Verflucht, sie wusste genau, was jetzt kam - Fragen, irritierte Blicke. Nicht nur von ihm.
„Mascha?“
„Hm.“
„Alles klar?“ Er klang besorgt.
„Ja“, antwortete sie erschöpft.
„Was war das gerade da draußen? Ich habe nicht mal ansatzweise geahnt, dass du so etwas kannst.“ Erstaunen schwang in seiner Stimme mit.
Sie blickte auf und rieb sich über den Nasenrücken. „Wieso? Du wusstest doch, dass ich mich mit Kampfsport beschäftige.“
„Das schon, aber ich dachte nicht … Ich hatte mir nicht vorgestellt … dass du das SO …“, er betonte das Wort, „… beherrschst.“
„Das ist aber nicht meine Schuld, dass du mein Können auf dem Gebiet falsch eingeschätzt hast.“ Oh Gott, sie hörte sich an wie ein eingeschnapptes Kleinkind. Er wollte doch nur nett sein.
Lars lenkte ein. „Vermutlich hast du Recht. Ich habe mir nie Gedanken über dein Training gemacht.“ Er zuckte mit den Achseln. „Wie nennt man diese Sportart und seit wann betreibst du sie? Für mich sah das übrigens eher so aus, als hättest du eine Nahkampfausbildung.“
Mascha blickte ihn abschätzend an, zuckte mit keiner Wimper. Ganz Pokerface.
„Ach komm schon“, schob er grinsend hinterher, als nichts kam. „Du weißt doch, wie gerne ich Martial-Arts-Filme gucke."
Mascha seufzte. Er hatte ja keine Ahnung, wie nah er dran lag. Irgendetwas musste sie ihm jetzt erzählen. „Ich betreibe seit meinem fünften Lebensjahr …“, kurz zögerte sie, suchte nach dem richtigen Wort. Was sollte sie sagen? „Kampfsport.“
Lars blickte sie sprachlos an. „So lange schon?!“
„Ja!“
„Welche Technik denn?“
„Diverse. Früher habe ich eine spezielle Form betrieben, die völlig unbekannt ist. Mein … Onkel hat sie mir beigebracht, es war seine eigene Technik, sein ganz eigener Stil, eine Mischung aus allem Möglichen.“ Wie sollte sie ihren Meister sonst beschreiben? Er hatte sie vom fünften bis zum siebzehnten Lebensjahr unterwiesen, nicht nur in Kampftechniken, auch spirituell und besonders im Hinblick auf ihre genetische Besonderheit. „Seit Maiks Tod betreibe ich fast jeden Abend in der Woche eine andere Art: Karate, Tae-Kwon-Do, Kickboxen und Kendo.“ Noch mehr Formen aufzuzählen war überflüssig. „Das hält mich fit und lenkt ab.“ Leise fügte sie hinzu: „Dann sitze ich nicht den ganzen Abend grübelnd zu Hause.“ Heul doch. Mann, sie war echt nicht mehr sie selbst. Maik, was hast du nur alles von mir mitgenommen …???

Lars betrachtete Maschas durchtrainierten Körper. Er fand schon immer, dass niemand es mit ihrer Figur aufnehmen konnte. Keine 20-jährige kam da mit. Sie hatte kein Fett am Körper und alle - zumindest sichtbaren - Muskeln waren, soweit er das beurteilen konnte, hervorragend austrainiert und deuteten auf die Ausgewogenheit von Schnelligkeit und Kraft hin. In einem Kleid hatte sie trotz der Muskeln immer gut ausgesehen. Okay, früher hatte sie optisch weicher gewirkt. In den letzten Jahren hatte sie stark abgenommen, was ihre Muskeln noch deutlicher hervortreten ließ. Kleider hatte sie schon lange keine mehr getragen. Und schon lange hatte sie diesen traurigen Ausdruck in den Augen, der auch bei einem Lachen nicht verschwand. Die Mascha, die früher vor Energie und Leben nur so strotzte, die, die etwas Geheimnisvolles und Besonderes umwehte, schien nicht mehr zu existieren. 
Wenn Lars sie jetzt so ansah, stimmten die Erinnerungen an die alte Mascha auch ihn traurig. Sie kam über den Tod ihrer großen Liebe einfach nicht hinweg. Er wusste, dass sie unmittelbar danach in eine Klinik gekommen war, weil sie einen totalen Zusammenbruch erlitten hatte. Dort war sie mehrere Monate gewesen, dann war sie zurückgekommen - nur eine Hülle. Seit Jahren machte sie jetzt eine Therapie und kam trotzdem kaum vorwärts. 
Lars merkte, dass sie ihn anschaute oder vielmehr durch ihn hindurch. Er versuchte sie aus ihren Grübeleien zu reißen.
„Und hast du so etwas wie einen schwarzen Gürtel oder so?“
„In jeder der vier Sportarten habe ich den fünften Dan“, antwortete sie abwesend.
„Hä?“

Mascha verscheuchte ihre Gedanken und wendete Lars wieder ihre Aufmerksamkeit zu. „Sozusagen fünfmal den schwarzen Gurt.“ Dass sie in ihrer eigentlichen besonderen Kampftechnik unter ihresgleichen eine absolute Expertin, also Meisterin war - und es gab insgesamt nur um die 50 Meister - konnte sie nicht sagen. Außerdem gehörte das zu ihrem alten Leben.
„Kämpfst du auch so richtig gegen andere?“
Sie zögerte. „Nicht mehr … Lass uns nicht weiter darüber sprechen, Lars. Das Ganze vorhin hat mich total ausgelaugt und außerdem … ist es mir jetzt echt unangenehm, mich als Kampfmaschine geoutet zu haben. Mal sehen, welchen Senf die anderen noch dazu geben." Mit einem leisen Stöhnen legte sie den Kopf auf ihre verschränkten Arme und schloss die Augen. Sie war so müde.
Sanft strich Lars ihr über den Arm, als er ging.
Puuuuh. Mascha war froh, wieder allein zu sein. Aber Lars hatte sie tatsächlich abgelenkt und nun hatte sie sich wieder halbwegs gefangen. Entschlossen stand sie auf. Ihre Schüler erwarteten sie, aber vorher musste sie noch eine andere Angelegenheit erledigen. Mascha machte sich auf den Weg zu Richard, der an ihrer Schule für die Pressemitteilungen zuständig war. Das fehlte noch, dass der was über ihre Rolle bei dem Vorfall der Presse mitteilte. Shit! Sie ärgerte sich. Sie hätte sofort mit ihm reden müssen. In einem Klassenraum wurde sie fündig.
„Was ist los, Mascha?“ Richard starrte sie an, als wäre sie ein Alien.
Ja, sie freute sich auch, ihn zu sehen!
Sie hatten sowieso nicht gerade das beste Verhältnis. Mascha atmete geräuschvoll aus. Genau die Art, wie er sie ansah, hatte sie gefürchtet. „Richard, hast du den Vorfall schon der Presse gemeldet?“
„Ja!“
„Mist … Was genau hast du denen mitgeteilt?“
„Dass du eine schlimme Prügelei verhindert hast.“
Na super, das hatte ihr noch gefehlt. Das Leben war doch so schon beschissen genug. „Lass bitte meinen Namen noch herausnehmen!“
„Wieso? Du bist doch die Heldin des Tages, das ist doch etwas Gutes.“
„Ich möchte meinen Namen nicht in der Zeitung finden. Es ist doch nur wichtig, dass es verhindert wurde, nicht von wem. Ich komme mir jetzt schon doof vor. Alle hier starren mich an, als wäre ich ein Monster. Schon allein dein Gesichtsausdruck spricht Bände.“
Verlegen senkte Richard den Blick.
Schließlich nickte er. „In Ordnung, wenn es dir so wichtig ist.“

Mascha ging durch den Hauptbahnhof von Dortmund. Es war 21:55 Uhr. Ihr Auto parkte auf der Rückseite des Bahnhofs.
Das Training gerade hatte kurzfristig geholfen, die Anspannung, die das Ereignis auf dem Schulhof am Vormittag verursacht hatte, abzubauen. Jetzt geisterte ihr das Erlebte allerdings wieder durch den Kopf. In eine solche Situation war sie lange nicht mehr geraten.
Ohne auf ihre Umgebung zu achten, ging Mascha mit gesenktem Kopf durch den Bahnhof, die Hände tief in ihren Taschen vergraben. Viele Menschen strömten ihr entgegen. Kinobesucher, Reisende, Penner, Skins, Punks. Sie hatte keinen Blick dafür.
Ein kurzer Rempler an der Schulter entlockte ihr ein geistesabwesend gemurmeltes „Sorry".

                                                                                                                                              +++
Er beobachtete die Blondine wieder. Zwei Stunden, nachdem sie im Trainingszentrum verschwunden war, war sie wieder herausgekommen. Ihre ganze Haltung drückte Niedergeschlagenheit aus, wie sie sich da durch den Bahnhof schleppte. Die haftete ihr ständig an, wie eine zweite Haut. Jetzt sah er sie direkt in den Ärger hineinrennen. Nicht, dass es ihn wirklich kümmerte, ob sie Hilfe brauchte. Das war ihm scheißegal. Aber ihre Reaktion, wie sie damit umgehen würde, interessierte ihn brennend. Da wurde ihm doch mal etwas geboten fürs Geld. Er achtete darauf, genügend Abstand zu halten.
                                                                                                                                                +++

„Hey Alte, du hast mich angerempelt“, hörte Mascha jemanden in ihrem Rücken motzen. Da sie sich weder angesprochen noch verantwortlich fühlte, ging sie einfach weiter.
Die Stimme wurde wütender. „Ey Schlampe, ich sprech’ mit dir. Bleib gefälligst stehen.“
Grob wurde sie an der Schulter herumgerissen ...


Neugierig geworden? Dann lies weiter in Bittersüßer Nachtschatten - Gift der Vergangenheit

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