STÄHLERNE HERZEN-REIHE

Bei den lose miteinander verbundenen Romanen aus der STÄHLERNE HERZEN-Reihe handelt es sich um Dark Thrill Romance aus dem Ruhrgebiet, wo der Geist von Kohle und Stahl noch heute den Willen und die Herzen der Menschen „stählt". 

Neben Action und Spannung knistert es in diesen Geschichten vor Erotik und Liebe.

Jeder Roman kann für sich gelesen werden.

Allerdings bezieht sich die Geschichte STÄHLERNE HERZEN · UNBEUGSAM auf Handlungen und Personen aus "Der bittere Geschmack der Lüge" sowie "STÄHLERNE HERZEN · UNORTHODOX" und es schadet nicht, diese zu kennen ;-)

 

Informationen/Leseproben

Information:
Personen und Orte, die in STÄHLERNE HERZEN·UNBEUGSAM eine Rolle spielen, sind bekannt aus den Vorgänger-Romanen
"Der bittere Geschmack der Lüge"                       Claire, Huntington, Mel, Ryan 
und aus
"STÄHLERNE HERZEN·UNORTHODOX"      King, Fade, Ami, Joe und das Ruhrgebiet.

LESEPROBE 1:
King reagierte so pfeilschnell, dass sie es kaum registrieren konnte. Er riss die Hand weg, packte ihr Handgelenk und drehte ihr den Arm samt Messer auf den Rücken.
Dadurch klebte sie wie eine Briefmarke an seiner Brust, die frisch nach Duschgel roch.
Seine andere Hand grub sich in ihre offenen Haare und er zog ihren Kopf zurück. Zwischen seinen Augen war eine steile Falte entstanden. „Vorsicht, kleine Claire“, knurrte er bedrohlich leise. „Bis gerade war es noch Spaß, jetzt nicht mehr.“ Er beugte sich zu ihr hinab, schnupperte sich demonstrativ ihren Hals hinauf, Wange und Schläfe entlang und schließlich in ihrem Haar.
Sie fühlte seinen Brustkorb vibrieren, als er ein „Mhmmm“ von sich gab.
„Immer noch Erdbeeren und Vanille“, murmelte er kaum hörbar, dann lauter: „Na, gar keine Angst, kleine Claire, so fest in meinem Griff?“
Dieser Mistkerl wollte sie provozieren. Sie schluckte. „Nein, gerade ausnahmsweise nicht!“ Ihr piepsiges Stimmchen schien die Worte Lügen zu strafen. Doch der Inhalt stimmte: Sie war sauer auf ihn, aber sie hatte keine Angst. „Dazu bin ich zu wütend auf dich.“
„Lass das Messer fallen“, befahl er.
„Nein!“
„Claire, ich lasse dich erst los, wenn du das Messer fallen lässt.“ Dann brachte er den Mund dicht an ihr Ohr. „Ich könnte dich jetzt küssen oder an dir knabbern, dich vielleicht ein bisschen beißen und du könntest nichts dagegen tun.“
Zur Hölle, das könnte er. Sie konnte sich kaum rühren. Unruhe erfasste sie. Sie zappelte in der unfreiwilligen Umarmung.
Er gab keinen Zentimeter nach.
Scheiße, was sollte das? „King, bitte lass mich los.“
„Nope. Du hast das Messer nicht fallengelassen. Ich denke, ich sollte erst noch ein bisschen an dir knabbern.“
Warum um alles in der Welt ließ sie das dämliche Messer nicht los? Sie wusste es nicht. Nur dass sich eine Art Widerstand in ihr regte, als dieser widerliche Macho seine Physis voll ausspielte. Stattdessen hörte sie sich sagen: „Dann tu’s, aber bitte mach schnell.“ Sie senkte den Kopf, soweit das ging, und schloss die Augen.
Uff, beinahe wäre sie gefallen.
King hatte sie so abrupt losgelassen, als hätte er ein leckendes Fass Batteriesäure im Arm.


Noch nicht genug, es darf noch ein bisschen mehr sein? 
 

LESEPROBE 2:
Eins
Das Messer näherte sich ihr unaufhaltsam. Sie flehte, er solle aufhören. Aber er kannte kein Erbarmen. Eiskalte grüne Augen, die sich in ihr Gedächtnis brannten. Der Blick so gnadenlos, dass sie wusste, es gab kein Entkommen. Überall flammte Qual durch ihren Körper. Ein brutaler Schlag in den Bauch entzog ihr alle Luft. Dann explodierte greller Schmerz in ihrem Unterleib, als die Klinge wie ein glühender Speer eindrang …
Schreiend schlug sie um sich, bis sie endlich kapierte, dass es nur ein Traum war. Zumindest war es das jetzt. Vor etwas mehr als sechseinhalb Jahren war es das nicht gewesen.
Hastig griff Claire nach der Plastiktüte auf ihrem Nachttisch und atmete hinein. Immer, wenn die altbekannten Bilder sie heimsuchten, musste sie ihre Atmung in den Griff kriegen, um nicht zu hyperventilieren.
Ganz langsam beruhigte sie sich. Beinahe jede Nacht durchlebte sie das Martyrium von neuem. Beinahe jede Nacht atmete sie in dieses elende Stück Plastik. Anschließend war meistens nicht mehr an Schlaf zu denken.
Deshalb erhob sie sich und ging duschen. Danach würde sie einen Tee trinken und sich auf einen weiteren Tag vorbereiten, an dem sie sich durch ihr Dasein schleppte. Auch wenn ihr Leben mehr einem Zustand der Tristesse und Einsamkeit glich, raffte sie sich doch jeden Morgen auf und ertrug es. Tag für Tag, wie Perlen an einer Kette. Aneinandergereiht, ohne Abwechslung. Aber im Prinzip war sie froh darüber. Denn Abwechslung bedeutete in ihrem Fall, um ihr Leben fürchten zu müssen.
Andere hätten auf die Idee kommen können, sich zu fragen, ob es sich lohnte, jeden Morgen aufzustehen und solch ein ödes Leben, noch dazu allein, durchzustehen. Aber diese Frage stellte sich Claire nicht, denn sie kannte die Antwort: Würde sie nicht mehr aufstehen, hätte ER gewonnen. Und das gönnte sie dem Wichser nicht. Allein ihr Überleben musste dem Arschloch höllische Angst einjagen.
Deshalb bestand auch ihre einzige Abwechslung im Ortswechsel. In den letzten gut sechs Jahren war sie 25 Mal umgezogen, quer durch die Staaten, um IHM zu entkommen. Meist lebte sie in Hotels, selten in Wohnungen. Etwas längerfristig zu mieten, machte kaum Sinn. Allerdings bewohnte sie aktuell ein kleines Ferienappartement, was einer eigenen Wohnung am nächsten kam.
Damals hatte ER sie übel zugerichtet und hätte sie wohl auch getötet, wäre ihr nicht jemand zu Hilfe geeilt.
Und wie hatte sie es dem Retter gedankt? Indem sie ihn in den Knast wandern ließ, weil sie zu feige war, eine Aussage zu machen. Aber dieses Mal nicht. Dieses Mal würde sie gegen IHN aussagen und damit Ryan und Mel unterstützen. Der Prozess gegen Huntington lief seit kurzem, aber ihre Aussage war erst in ein paar Wochen gefordert.
Ryan hatte ihr unglaublicherweise verziehen, dass sie damals untergetaucht und er deshalb ins Gefängnis gekommen war. Wahrscheinlich hätte er ihr nie vergeben, wenn die wunderbare Mel ihn nicht dazu bewogen hätte, Claire zuzuhören. Unvorstellbar, diese berühmte Schauspielerin war nun ihre Freundin. Die einzige, die Claire hatte. Bisher hatte sie sich den Luxus von Freundschaften nicht gönnen können. Aber Mel und Ryan gaben ihr Hoffnung auf Gerechtigkeit und auf ein halbwegs normales Leben, in dem sie nicht mehr ständig untertauchen, umziehen und sich neue Jobs suchen musste. Und Mel war eine echte Freundin. Völlig anders als von der Öffentlichkeit wahrgenommen, war sie warmherzig und ohne Vorurteile. Sie hatte Claire zugehört und verstanden, und dann Ryan, der Claire hasste, bewogen, sich Claires Geschichte anzuhören. Unfassbarerweise hatte Ryan Claire ebenfalls verstanden und ihr verziehen. Seitdem zählte sie beide zu ihren Freunden und es waren mächtige Freunde. Deshalb hatte sie Mut gefasst, auch für sich selbst Hoffnung zu haben. Selbst wenn sie nie wieder eine Beziehung zu einem Mann würde führen können. Aber sie war auch die letzten sechs Jahre ohne einen ausgekommen. Einfach ein ruhiges, sesshaftes Leben mit einem geregelten Job wäre schon erstrebenswert.

Claires Nackenhaare stellten sich auf. Sie wurde beobachtet. Da war sie sich hundertprozentig sicher. Sie hatte gelernt, ihrem Bauchgefühl zu vertrauen.
Anfangs hatten sie die wenigen Freunde, die sie damals noch hatte, für paranoid gehalten. Aber die Unfälle, die ihre Freunde erleiden mussten, hatten ihr gezeigt, dass sie richtig lag. Als plötzlich bei einer Freundin die Bremsen versagten, eine zweite beinahe überfahren worden wäre, wusste sie, dass es sich um Drohungen gegen sie handelte.
Sie hatte alle Zelte abgebrochen und war untergetaucht. Seitdem lebte sie völlig isoliert. Sie hatte niemanden mehr gefährden wollen. Und die unzähligen Male danach, als sie selbst gerade eben einem Unfall entgangen war, hatten sie gelehrt, auf ihre Intuition zu vertrauen. Und dieses innere Radar kreischte in diesem Augenblick wie ein Martinshorn, dass sie in Gefahr schwebte.
Unauffällig schaute sich Claire um und entdeckte einen Kerl. Zwar wirkte der genau wie alle anderen, aber sie hatte im Lauf der Jahre hypersensible Antennen für Huntingtons Handlanger entwickelt. Und das war einer! Verfluchte Scheiße! Sie hatte gedacht, sie wäre wenigstens jetzt vor ihm sicher. Ihm wurde doch der Prozess gemacht. Aber noch während sie versuchte zu verstehen, was hier passierte, setzten sich ihre Füße in Bewegung. Claire verschwand in einem Geschäft, flitzte durch die Gänge und auf der anderen Seite hinaus. Dort stand ein Bus und wollte gerade anfahren. Sie raste zur Fahrertür und donnerte mit der flachen Hand dagegen. „B‑Bitte machen Sie auf!“, rief sie hysterisch.
Der Fahrer erkannte wohl ihre Not und öffnete, konnte sich aber einen tadelnden Blick nicht verkneifen.
„D… D… Danke!“, stotterte sie. Sie bekam kaum noch Luft. Nicht wegen des Laufens, das konnte sie stundenlang machen. Sie war eine extrem gute Läuferin und das hatte ihr mehr als einmal das Leben gerettet. Deshalb trainierte sie es ja. Sondern wegen der aufkeimenden Panik.
„Alles in Ordnung, Ma’am?“, fragte der Busfahrer und betrachtete sie nun besorgt.
„Fahren Sie, bitte!“, röchelte Claire, fischte fahrig die Tüte aus der Tasche und hielt sie sich vor den Mund. Einatmen, ausatmen!
Endlich startete der Bus. Claire warf einen Blick nach draußen und sah den Mann an der Haltestelle stehen. Er blickte sie genau an und zog den Daumen an seiner Kehle entlang. Mit der anderen Hand kramte er ein Handy aus der Tasche.
Oh Gott! Sie musste so schnell wie möglich wieder raus hier. Nachdem der Bus zweimal abgebogen war, krächzte Claire: „Stopp! Sie müssen mich rauslassen. Ich muss kotzen.“
Beunruhigt musterte der Busfahrer sie. „Brauchen Sie einen Arzt?“
Claire begann zu würgen. Sie wusste, das wirkte immer. Schließlich hatte sie viel Fluchterfahrung.
Entgeistert schaute der Fahrer sie an, trat ruckartig auf die Bremse und öffnete die Tür.
Claire stürzte hinaus. Die fluchenden Rufe des Busfahrers ignorierte sie und rannte ins nächstbeste Gebäude, ein riesiges Outlet. Sie lief zur Behindertentoilette und schloss sich darin ein. Völlig ausgelaugt fiel sie auf den Boden und röchelte. Mit zitternden, tauben Fingern zerrte sie den Plastikbeutel hervor. Sie war kurz davor, zu hyperventilieren. Das konnte sie sich jetzt nicht leisten.
Nachdem sie sich halbwegs beruhigt hatte, zog sie das Handy aus der Tasche und wählte die Nummer der einzigen Freundin, die sie hatte.
„Hi, Claire!“ Als sie Mels Stimme hörte, war sie so erleichtert, dass sie am liebsten losgeheult hätte. Obwohl es völlig schwachsinnig war und ein gefährlicher Trugschluss, hatte sie das Gefühl, dass ihr jetzt nichts mehr passieren konnte.
Mehrmals musste sie schlucken und tief durchatmen, bis sie endlich einen Ton herausbekam.
Das war Mel nicht unbekannt, denn sofort fragte sie: „Ist alles in Ordnung, Claire?“
„Nein, Mel. Nichts ist ok.“ Und dann berichtete sie Mel, was gerade geschehen war. Sie rechnete es ihrer Freundin hoch an, dass diese nicht eine Sekunde an ihrer Aussage, geschweige denn Wahrnehmung zweifelte. Denn auch Mel hatte im Laufe des Lebens einige wirklich üble, von Gewalt geprägte Erfahrungen gemacht. Sie wusste, dass Claire nicht fantasierte, vor allem nicht in Bezug auf Huntington. Schließlich war sie selbst eines seiner Opfer.
„Ich hole Ryan.“ Mels Stimme klang fest und bestimmend.
Claire hörte Mel rufen, kurz drauf war Ryan da. „Claire, ich stelle auf laut, dann kann Ryan mithören. Berichte ihm, was du mir erzählt hast. Währenddessen lasse ich dich abholen. Sag mir, wo du bist.“
Claire tat, wie geheißen, und erzählte die Geschichte ein zweites Mal.
Als sie fertig war, versank Ryan kurz in grüblerischem Schweigen. Dann sagte er: „Wir müssen dich bis zu deiner Aussage im Prozess aus der Schusslinie bringen, und zwar so weit, dass Huntington im Leben nicht darauf kommt, wo du bist. Ich habe einen alten Bekannten aus der Army. Er schuldet mir noch was. Das Gute ist, er ist so weit weg, wie nur möglich, nämlich in Deutschland, und er ist eine Koryphäe auf dem Gebiet des Personenschutzes. Du wirst zu ihm fliegen und bis kurz vor deiner Aussage in sechs Wochen da bleiben.“
Ryan fragte keine Sekunde, ob ihr das recht war. Aber letzten Endes war es Claire egal. Sie war schon so oft umgezogen, fühlte sich nirgendwo heimisch, besaß genau einen Koffer, in dem all ihre jämmerlichen Habseligkeiten waren. Da kam es auf einmal mehr oder weniger auch nicht an. „Okay, wie machen wir es?“
„Mel veranlasst schon deine Abholung. Gemeinsam mit unserem Mann holst du gleich deine Sachen aus deiner Bude und kommst hierher. Mel wird dir helfen, ein paar optische Veränderungen vorzunehmen. Wie gefällt dir blond?“
„Äh …!“
Bevor sie wirklich antworten konnte, sprach Ryan wieder. „Gut, so machen wir es. Vielleicht ist es auch sinnvoll, deine Sommersprossen mit Make-up abzudecken“, murmelte er mehr zu sich selbst. Dann wandte er ihr wieder die volle Aufmerksamkeit zu. „Ich nehme unterdessen Kontakt zu meinem Bekannten auf und organisiere deinen Personenschutz. Danach buchen wir dir ein Ticket und in 24 Stunden bist du in Sicherheit - in Deutschland.“
Ryan klang so selbstsicher, dass Claire keine Zweifel hatte, dass es so sein würde.


Zwei
„Hey Punish-King, geiler Kampf!“, brüllte irgendwer.
Jepp, das war es gewesen. Schade, dass es schon vorbei war. King wickelte sich die Bandage von den Fingerknöcheln und ließ den Kopf kreisen. Sein Nacken knackte und die Schultern lockerten sich. Er hatte sich mit dem anderen einen ordentlichen Fight geliefert, um den Kerl dann in den Boden zu rammen. Am Ende hatte er ein Preisgeld von 8.000 Euro kassiert, natürlich unter der Hand. Denn diese Form des Kampfes gab es legal nicht. Hier gab es keine Regeln außer einer: nach Möglichkeit nicht töten. Es war jeder Schlag, jeder Tritt, jeder Hebel und jeder Griff erlaubt, egal in welcher Höhe, inklusive der heiligen Glocken. Hier wurde gefightet wie auf der Straße – mit allen Mitteln. King liebte diese Art des Kämpfens. Es war pur, ehrlich und brutal. Deshalb mochte er diese Form lieber als einen legalen MMA-Fight. Aber weil er einfach gerne kämpfte, sich gerne spürte und außerdem saugut war, bestritt er beide Arten– legale und illegale.
Shit, das Klingeln des Handys in seiner Sporttasche riss ihn aus seiner Euphorie. Er durchwühlte die Tasche, bis er es gefunden hatte. Oha! Die Nummer im Display hatte er einige Jahre nicht gesehen. Gespannt tippte er auf den grünen Hörer. „Yo, Bro, welch Überraschung!“
„Ganz meinerseits, Viper.“
Wow, wie lange hatte er den Namen nicht mehr gehört. „Ich nehme an, du rufst nicht an, um zu fragen, wie schön das Wetter hier auf der anderen Seite des Teichs ist, Ghost.“
„Da liegst du richtig, Alter. Ich wollte nur mal deine süße Stimme hören.“
„Na, das hast du ja jetzt. Ich freue mich auch, deinem lieblichen Timbre zu lauschen. Gibt es sonst noch was?“
„Ja, hör mal. Ich habe hier eine Lady.“
„Das habe ich schon gehört, Glückwunsch.“ Für ihn wäre das nichts.
„Ich rede nicht von Mel, noch eine andere.“
„Dachte ich’s mir doch, du bist und bleibst ein alter Schwerenöter.“
Er konnte förmlich sehen, wie Ryan die Augen verdrehte, und grinste in sich hinein.
„Du musst nicht von dir auf andere schließen. Ich vögle nicht alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist“, lachte Ryan, dann wurde er ernst. „Es geht um eine gemeinsame Freundin von Mel und mir, deren Leben bedroht wird. Ich habe ihr deine aufopferungsvolle Fürsorge empfohlen. Sie ist bereit, zu dir zu fliegen, um sich von deinen Qualitäten zu überzeugen. Der Job wäre für sechs bis zehn Wochen.“
„Was ist passiert? Wieso ist ihr Leben in Gefahr?“
„Sie sagt im Prozess für mich aus, gegen Huntington.“
Oh! „Was spielt sie für eine Rolle dabei?“
„Eine wichtige. Den Rest muss sie dir selbst erzählen. Jedenfalls hat sie wirklich Schlimmes im Leben durchgemacht und ist übrigens etwas speziell. Aber das wirst du schon noch herausfinden. Zweifellos trachtet der alte Wichser ihr nach dem Leben. Und scheint selbst aus dem Knast heraus die Fäden zu ziehen. Bist du bereit, den Job anzunehmen?“
Natürlich war er das. Abgesehen davon, dass Personenschutz tatsächlich sein Beruf war, würde er Ryan niemals etwas abschlagen. Schließlich hatte der Bastard ihn im Alleingang aus den Fängen afghanischer Terroristen befreit, als die Scheißkerle ihn bereits anderthalb Wochen gefoltert hatten und er schon kurz davor war, dem Schöpfer gegenüberzutreten. Das war 15 Jahre her. Damals hatte King Ryan versprochen, ihm zu helfen, sollte der jemals seine Unterstützung brauchen. Er war bereit, sein Leben für Ryan zu geben. Aber Ryan hatte abgewunken und bisher nie auch nur einen Fitzel Hilfe eingefordert. Nicht mal, als er in den Knast gewandert war. King hatte sie ihm wahrhaftig angeboten, fast schon aufgedrängt. Denn seine Kontakte in die Unterwelt, selbst bis in den amerikanischen Knast, hätten Ryan helfen können, ihm das Leben dort zumindest angenehm zu gestalten. Aber der Sturkopf hatte kategorisch abgelehnt. Wenn Ryan ihn jetzt also endlich mal um etwas bat, würde er springen wie ein Hund nach dem Stöckchen. So konnte er wenigstens einen kleinen Teil seiner Schuld begleichen. „Ich übernehme den Job!“, sagte er folglich, ohne die Details der Bedrohung und somit der Gefahr zu kennen. Aber die waren ihm scheißegal. Nur der Wunsch seines Kumpels zählte. „Wie soll es ablaufen?“
Sie besprachen die Einzelheiten und Ryan versicherte, nachher noch ein Foto zu schicken.
Einige Stunden später öffnete King auf seinem Smartphone Ryans Nachricht mit dem angekündigten Bild, auf dem eine Blondine zu sehen war, die sehr verängstigt wirkte. Was natürlich logisch war. Aber ihre Züge erweckten den Anschein, als sei die Angst ihr ständiger Begleiter und hätte sich tief in ihre Seele und ihr Gesicht gegraben.
Vermutlich hätte er Mitleid haben müssen, hatte er aber nicht. Er hatte Schwierigkeiten mit Menschen, die sich von Furcht leiten ließen, statt sich gegen sie zu stellen und damit umgehen zu lernen. Sie versteckten sich gerne dahinter und schoben ihre Phobien vor, um alles Mögliche nicht zu können, bis einige irgendwann gar nicht mehr aus dem Haus gingen. Wahrscheinlich war sie auch so eine. Deshalb war sie ihm schon jetzt unsympathisch.
Keine Ahnung, wie Ryan mit der befreundet sein konnte. Vermutlich war er das nur seiner Perle zuliebe, die zumindest in den USA als arrogante Diva verschrien war. Ebenso wenig begriff er, was Ryan an so einem Luxusweibchen fand. Doch was wusste er schon. Nichts! Und selbst wenn Ryan einen eigenartigen Frauengeschmack hatte, war er sonst ein Pfundskerl, auf den er nichts kommen ließ. Wie auch immer, ob er das verängstigte Weib nun sympathisch fand oder nicht, war scheißegal. Es ging hier schließlich nicht darum, sie nett zu finden, sondern nur darum, seinen Job zu machen, und er tat es für Ryan.
Kurz erwog er, einen seiner Leute zu schicken, aber das verwarf er sofort wieder. ER schuldete Ryan etwas und deshalb würde er niemand anderen mit diesem Auftrag betrauen, der nicht seine Fähigkeiten hatte. Diese Leistung musste er persönlich erbringen und das würde er mit vollem Einsatz tun.


Drei
Claire hatte alle Flughafenkontrollen durchlaufen und sich schnell auf die Toilette begeben, um ihr Aussehen zu kontrollieren.
Nachdem sie gestern drei Stunden mit Mel und Ryan verbracht hatte, war Mels Visagistin gekommen, hatte sich um Claire gekümmert und ihr gezeigt, wie sie die dunkelbraunen Kontaktlinsen einsetzen und die Sommersprossen mit Make-Up abdecken musste. Danach ging es im Prinzip sofort zum Flughafen.
Nun war sie hier gelandet, in Deutschland, genauer in Düsseldorf. Claire betrachtete sich im Spiegel, eine fremde Frau schaute zurück. Sie sah so anders aus mit dem blonden, geglätteten Haar, den braunen Augen und diesen geschäftsmäßigen Klamotten. Als sie sich überzeugt hatte, dass ihre Maskerade saß, ging sie zurück, um den Bodyguard zu suchen. Ryan hatte ihr versichert, dass sie ihn sofort erkennen würde, selbst ohne das Foto, das er ihr dann gezeigt hatte. Dort war ein glatzköpfiger Hüne zu sehen gewesen.
Suchend blickte Claire sich um, konnte aber niemanden entdecken. Langsam ging sie durch den langgezogenen Schlauch, der die Ankunftshalle darstellte, den Koffer hinter sich her rollend.
Plötzlich erschien etwa zwei Meter vor ihr eine schwarze Wand. Claire erstarrte wie schockgefrostet und brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass es weder eine Wand noch ein Schrank war, sondern eine extrem breite Männerbrust, auf die sie da mit großen Augen glotzte. Und die zu einem sehr großen Kerl gehörte. Sofort stellten sich ihre Nackenhaare auf, die Atmung beschleunigte sich und ihr in Fleisch und Blut übergegangener Fluchtinstinkt zwang sie beinahe, davonzustürmen. Um sich zu beruhigen, hätte sie am liebsten die Tüte herausgeholt und ein bisschen hinein geatmet. Aber sie konnte ihre Hand gerade eben noch davon abhalten, das Ding hervorzuziehen, indem sie hartnäckig einfach weiterhin die Handtasche umklammerte, bis die Knöchel weiß hervortraten. Genauso schaffte sie es mit aller Macht, ihre Füße am Weglaufen zu hindern. Claire hörte sich selbst keuchen.
Zur Hölle, er hätte der Feind sein können und sie wäre genau in die Falle getappt. Aber sie hatte angenommen, dass sie niemand bis nach Deutschland verfolgte. Zumindest nicht so schnell, wahrscheinlich sogar gar nicht. Und genau deshalb beruhigte sie sich auch. Das vor ihr konnte kein Feind sein, auch wenn der Typ so wirkte wie Huntingtons Häscher. Wahrscheinlich weil er ebenfalls ein Armee-Typ war, genau wie Ryan. Denen haftete so etwas Martialisches an. Sie bewegten sich wie Raubkatzen und wenn sie Pech hatte, sogar wie Geister.
Langsam wanderte ihr Blick nach oben. Sehr weit nach oben. Bis zu einem kantigen Gesicht, in dem nicht im Geringsten zu lesen war, was er dachte. Himmel, war der Kerl riesig. Die Nase war definitiv schon gebrochen gewesen. Die dunkelbraunen durchdringenden Augen waren irgendwie seltsam. Einerseits schien er damit bis auf ihre Seele gucken zu können, andererseits wirkten sie ausdruckslos. Er trug beschwingtes Schwarz: schwere Stiefel, Cargohose, T-Shirt und Beanie – von Kopf bis Fuß komplett schwarz. Obwohl glattrasiert, machte er alles andere als einen geleckten Eindruck. Die Arme hingen locker an der Seite. Sie entdeckte rote Fingerknöchel. Er hat sich erst vor kurzem geprügelt, schoss es ihr durch den Kopf.
Wieder beschleunigte sich ihre Atmung, wobei sie gleichzeitig flacher wurde. Im Versuch, mehr Luft zu bekommen, blähten sich ihre Nasenflügel. Mein Gott, sie musste einen absolut erbärmlichen Anblick bieten. Aber daran konnte sie beim besten Willen nichts ändern. Zu sehr war sie damit beschäftigt, nicht zu hyperventilieren oder wegzulaufen.

Die Blondine vom Foto war aus der Toilette getreten und suchend den Gang entlang auf ihn zugekommen. Zur Hölle, war Blondie bieder. Sie trug einen grauen Hosenanzug und eine weiße hochgeschlossene Bluse zu flachen Schuhen. Der Anzug saß schlecht und ließ von ihrer Figur nicht viel erkennen. Das glatte Haar wirkte strohig und stumpf. Tonnenweise Make-Up ‚zierte‘ ihr Gesicht, was es unmöglich machte, das Alter zu schätzen. Hatte sie etwa links eine Narbe im Gesicht? Selbst das konnte man unter all der Schminke kaum erkennen. Himmel, man brauchte ja eine Schaufel, um zu ihrer Haut vorzudringen. Wie lange brauchte sie abends zum Abschminken? Drei Stunden?
Als sie ihn fast erreicht hatte, war er hinter der Säule hervorgetreten und sie beinahe in Ohnmacht gefallen. Die braunen Augen wurden groß wie Untertassen und sie hielt die Handtasche wie einen Schutzschild vor sich.
Kurz überlegte er „Buh“ zu machen, um zu sehen, was passierte. Wahrscheinlich würde sie sich umdrehen und schreiend wegrennen oder gleich tot umkippen, so hektisch, wie sie atmete. Stattdessen hörte er sich fragen: „Claire?“
Nachdem sie ihn geschlagene 20 Sekunden wie paralysiert angestarrt hatte, schluckte sie hektisch und brachte sogar einen Ton heraus. „J… J… Ja!“, krächzte sie.
Na immerhin. „Prince Kingston, die meisten nennen mich King. Ryan bat mich, Ihren Personenschutz zu übernehmen.“ Damit trat er auf sie zu, um ihren Koffer zu nehmen.
Sie stolperte tatsächlich einen Schritt zurück und starrte auf seine ausgestreckte Hand, als handle es sich um eine Klapperschlange.
Er zuckte die Achseln. „Wie Sie wollen. Gehen Sie bitte voraus. Ich werde direkt hinter Ihnen bleiben und den Weg zum Auto ansagen. Wir fahren zu einem Safe-House in Dortmund, etwa 70 Kilometer von hier.“
Unsicher setzte sie sich in Bewegung und blickte sich ständig angstvoll über die Schulter, als erwarte sie, dass ER sie abmurksen würde. Genervt verdrehte King die Augen. Na, das konnte ja heiter werden. Wenn das jetzt die nächsten sechs oder noch schlimmer zehn Wochen so ging, drehte er durch. Aber für Ryan würde er alles tun, sich im Zweifel auch eine Hand abhacken lassen. Was vermutlich angenehmer war, als diese Person zu schützen. Komm schon, Alter, so schlimm wird das hier schon nicht werden – hoffte er.


Vier
Die Uhr zeigte 03:24 Uhr. Wie meistens konnte King nicht schlafen. Seit fünf Tagen wohnte er nun mit Claire im Safe-House in der Nähe von Phönix-West und die Frau strapazierte seine Geduld enorm. Sobald er den Raum betrat, fuhr sie wie von der Tarantel gestochen auf, um im Notfall auch ja fliehen zu können. Näherte er sich ihr, schienen ihre Beine zu vibrieren vor Anstrengung, nicht wegzulaufen. Kam er bis auf drei Meter an sie heran, wich sie tatsächlich vor ihm zurück. Zum Glück musste er sich nicht groß mit ihr befassen.
Ihr Zimmer verließ sie freiwillig nie, was auch immer sie dort tat. Da sie ein eigenes Bad hatte, bestand auch keine Notwendigkeit. Essen wurde ihr vor die Tür gestellt, darum hatte sie gebeten. Außer vier gestotterte Sätze ihrerseits, hatte er bisher kein Wort mit ihr gewechselt. Alles in allem war es ihm recht. Sie war wie ein verhuschter Geist.
Aber er langweilte sich zu Tode und seine Unruhe stieg. Er war ein Bewegungsjunkie und aktuell zum Nichtstun verdammt. Shit, entweder brauchte er mal wieder einen Fight oder einen harten Fick, aber das Weib fesselte ihn an dieses Haus. Zum Kämpfen konnte er definitiv nicht gehen. Mittlerweile überlegte er ernsthaft, sich eine Nutte ins Haus zu bestellen, damit er seine überbordende Energie abbauen konnte.
Um sich wenigstens etwas abzureagieren, hatte er sich vor zwei Stunden in den Fitnessraum im Keller begeben und war auf dem Laufband gerannt wie ein Irrer, hatte Seilchenspringen absolviert, danach Situps, Liegestütz und bearbeitete jetzt wie ein Durchgeknallter den Sandsack mit Hieben und Kicks. Langsam wurde er ruhiger.
Plötzlich ertönte ein markerschütternder, anhaltender Schrei.
Da er bis auf ihre alle Innentüren aufgelassen hatte, damit ihm kein Geräusch entging, erstarrte er für eine Sekunde ‑ was zur Hölle …? ‑, bevor er wie Usain Bolt losstürmte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Oben stürzte er mit gezogener Waffe durch ihre Tür. Schnell suchte er das dunkle Zimmer ab. Ein Lichtstreifen fiel vom Flur auf das Bett und er brauchte einen Moment, um zu kapieren, dass niemand hier war, außer Claire, die sich jedoch auf dem Bett hin und her wälzte und wimmernde Laute von sich gab. Scheiße, sie träumte! Wieder stieß sie einen Schrei aus, der ihm die nicht vorhandenen Haare zu Berge stehen ließ.
Entschlossen ging er zum Bett. „Claire!“
Keine Reaktion.
„Claire!“
Nichts.
Er setzte sich auf die Kante und fasste ihre schlagenden Arme, damit sie weder ihn noch die Wand traf. „Claire, ganz ruhig. Sie träumen.“
Sie schrie aus Leibeskräften und bog den Rücken durch, begann heftig in seinem Griff zu zappeln. Ihre Atmung beschleunigte sich und wurde gleichzeitig flacher. Mit einem Schlag flogen ihre Augen auf und sie blickte ihn an – blanker Horror in riesigen Pupillen, die so groß waren, dass man im Halbdunkel nicht mal die Iris erkennen konnte.
Doch sie schaute durch ihn hindurch und stieß den nächsten spitzen Schrei aus, versuchte die Arme zu befreien und begann plötzlich wie ein Tiger gegen ihn anzukämpfen. Offensichtlich erkannte sie ihn nicht, womöglich sah sie in ihm den Feind.
Erstaunt registrierte er am Rande ihre Stärke, die nicht nur dem Adrenalinschub geschuldet war, der sie gerade durchströmte.
Er musste wirklich Kraft aufwenden, um ihre Arme ins Bett zu pressen. Dann schwang er sich rittlings auf sie, um ihre tretenden Beine zu fixieren.
Wieder bog sie den Rücken durch und bockte wie ein wildes Pferd.
Herrgott! „Claire, beruhigen Sie sich.“
Doch es wurde schlimmer. Sie warf den Kopf hin und her und kreischte, als würde sie abgestochen, und er bekam sie einfach nicht wach. Mit einem Mal brach der Schrei ab, stattdessen ging ihre Atmung immer schneller, überschlug sich geradezu. Es wirkte nicht so, als ob sie wirklich noch Luft bekam.
Mist, sie hyperventilierte.
Trotzdem kreischte sie erneut los.
Verdammt, sie hatte doch kaum noch Luft!
Unvermittelt brach der Schrei ab und jede Bewegung erstarb.
Heilige Scheiße, sie war bewusstlos. Das war sie doch, oder? Er tastete nach ihrem Puls und fand ihn, aber die Atmung war unregelmäßig. Was sollte er tun? Fassungslos starrte er auf Claire hinab, während er sie losließ. Dann registrierte er, dass ihre Atmung sich langsam normalisierte.

Ihr Körper schmerzte, als wäre sie unter eine Dampfwalze geraten. Jeder Muskel tat ihr weh. Jeder Atemzug brannte. Die Kehle fühlte sich an, als hätte sie Glasscherben gegurgelt. Sie kannte diese Symptome nur zu gut. Das war eine ausgeprägte Panikattacke gewesen, mit allen Nebenwirkungen. Erschöpft legte sie den Arm, der Tonnen zu wiegen schien, über die Augen. So musste sich eine 90-Jährige fühlen. Nur langsam tropften vage Erinnerungen in ihr Bewusstsein. Wieder hatte sie diesen furchtbaren Alptraum gehabt. Aber dann hatten Huntingtons kalte grüne Augen zu durchdringenden braunen gewechselt und anstelle seines Gesichts war ein neues, kantiges erschienen.
Ach du Schreck! Oh nein! Claire entwich ein Stöhnen, als ihr klarwurde, dass King hier gewesen war. Nicht nur, dass er sie gesehen haben musste, er war ihr auch so nah gekommen, dass er ihr etwas hätte antun können. Was er natürlich nicht getan hatte. Schließlich sollte er ihre Sicherheit gewährleisten. Vielleicht bekam sie jetzt endlich in ihren verdammten Schädel, dass der Kerl zu ihrem Schutz da war und keiner von Huntingtons Schergen. Zwar sagte sie sich das hundert Mal am Tag, aber ihr Körper reagierte immer wie eine Gazelle, die plötzlich einem hungrigen Löwen gegenüberstand.
„Haben Sie sich jetzt beruhigt?“
Was …? Claire riss den Arm vom Gesicht und fuhr hoch. Mit schreckgeweiteten Augen starrte sie King an. Er lehnte mit vor dem mächtigen Brustkorb verschränkten Armen im Türrahmen und verdeckte den einfallenden Lichtstrahl aus dem Flur.
„Seit wann stehen Sie da?“, krächzte sie. Dank ihrer wunden Kehle klang sie lieblich wie eine rostige Säge.
„Seit ein paar Minuten. Kann ich reinkommen?“
Wow, er fragte. Bisher hatte er stets alle Anzeichen für Angst und Flucht ignoriert, so als bemerke er sie gar nicht … oder als interessiere es ihn nicht die Bohne …, und es ihr damit nicht leichter gemacht, sich an ihn zu gewöhnen.
„N-Nett, dass Sie f-fragen.“
Er zuckte die Achseln, musterte sie aber forschend.
Vermutete sie jedenfalls, denn das Flurlicht in seinem Rücken erschwerte ihr die Sicht. „O-Okay.“ Claire ärgerte sich, weil sie schon wieder stotterte. Sie hatte sich doch gerade bewusst gemacht, dass er nicht ihr Feind war. Aber er hat unglaublich viel Kraft und wirkt so düster. Mit Leichtigkeit könnte er dich zu Dingen zwingen, die du nicht willst, flüsterte eine Stimme in ihr. Sie zwang sich, nicht aus dem Bett zu hechten.
Er kam zwei Schritte in den Raum – nicht weiter.
Anscheinend registrierte er ihre Unruhe sehr wohl, was bedeutete, dass er sie bisher einfach ignoriert hatte. Empathie war wohl nicht sein Ding. Statt ihr Zeit zu geben, statt ihr die Möglichkeit einzuräumen, sich an ihn zu gewöhnen, schien er die Brachialmethode für geeignet zu erachten. Sie seufzte. Immerhin blieb er jetzt auf Abstand.
„Gehen Sie eigentlich immer geschminkt ins Bett? Das ist weder gut für die Haut noch für die Bettwäsche.“
Sie zeigte wortlos auf das Handtuch auf ihrem Kissen oder vielmehr auf die Stelle, wo es hätte liegen sollen. Aber jetzt war es irgendwo anders und das Kissen hoffnungslos verschmiert. „Äh … da liegt eigentlich ein Handtuch.“
King zog eine Augenbraue hoch. „Wie wäre es mit Abschminken.“
Claire schüttelte den Kopf. „Tarnung.“ Genauso wie die Kontaktlinsen, die sie gerade nicht trug. Ach du Scheiße. Schnell rückte sie aus dem Lichtkegel der Flurlampe. Das hatte auch den Vorteil, dass sie viel mehr von ihm erkennen konnte. Denn sein Gesicht war halbwegs beleuchtet, da er sich ein wenig seitlich gedreht hatte, um sie nun in der Dunkelheit auszumachen.
„Sie sind in einem Safe-House. Hier passiert Ihnen nichts“, grunzte er missmutig. „Was war das heute Nacht?“
„Sagen Sie es mir. Was ist passiert? Hatte ich … hatte ich eine Panikattacke?“
„Jepp, eine ziemlich ausgemachte sogar. Irgendwann sind Sie in Ohnmacht gefallen, nachdem Sie die ganze Bude zusammengeschrien und mir beinahe einen Herzinfarkt beschert haben. Haben um sich geschlagen wie eine Furie. Ich habe versucht, Sie festzuhalten und zu wecken, ohne Erfolg.“
ER hatte versucht, sie FESTZUHALTEN!!! Das erklärte einiges. „Tun Sie das bitte nie wieder“, entgegnete sie frostig. „Das macht es nur schlimmer.“
Kühl betrachtete er sie. „Wie Sie meinen. Falls Sie etwas Gutes für Ihre Kehle tun wollen, da steht Kamillentee mit Honig. Und wenn Sie aufgestanden sind, müssen wir uns unterhalten. Denn so kann ich Sie nicht beschützen.“
Eine halbe Stunde später schleppte sich Claire in die Küche. Die letzten Meter musste sie ihre Füße zwingen, sich vorwärtszubewegen. Gleich würde sie ihm wieder gegenüberstehen. Wenn Sie wenigstens aufgeregt wäre, weil sie ein Date hätte. Mach dich nicht lächerlich! Du wirst niemals wieder ein Date haben. Aber so war sie nur aufgeregt, weil dieser Kerl sie trotz allem jedes Mal in Schrecken versetzte.
King stand mit dem Rücken zu ihr und hantierte mit der Kaffeemaschine herum. „Kaffee?“, fragte er, ohne sich umzudrehen.
„Nein, lieber schwarzen Tee.“ Immer noch klang sie heiser.
„Mögen Sie keinen Kaffee?“
„Nein.“
„Okay, Claire. Sie sind wie immer sehr gesprächig. Mache ich Sie nervös?“ Jetzt drehte er sich um und bedachte sie mit einem maliziösen Grinsen.
Sie atmete tief durch. Erstaunlich, das ging sogar, trotz seiner Gegenwart. Sie hatte nicht wie sonst das Gefühl, dass nicht genug in ihrer Lunge ankam. Langsam ließ der Druck in ihrer Brust nach. „Ehrlich gesagt, ja. Und obwohl Sie es gemerkt haben, haben Sie sich in den letzten Tagen einen Spaß daraus gemacht, mich aus der Fassung zu bringen.“ Oh, wow, sie stotterte nicht einmal.
Das böse Grinsen wich seiner typischen undurchdringlichen Maske und die Stimme klang hart. „Spaß würde ich das nicht nennen. Da weiß ich mich besser zu amüsieren. Aber sonst liegen Sie richtig. Das ist auch der Grund für dieses Gespräch. Zum einen habe ich wenig Verständnis, wenn Menschen wie verängstigte Kinder durch die Gegend huschen und sich von ihrer Furcht hemmen lassen. Zum anderen kann ich Sie nicht schützen, wenn Sie von akutem Fluchtinstinkt erfasst werden, sobald ich mich nähere, oder gleich in Ohnmacht fallen. Im Notfall würde ich das übrigens ignorieren. Aber es ist schwierig, Ihnen gegebenenfalls Deckung zu geben, wenn Sie vor mir wegrennen und womöglich aus lauter Panik gleich dem Gegner in die Arme laufen. Letzen Endes ist Ihr Leben mir persönlich völlig schnurz, aber nicht mein Versprechen Ryan gegenüber. Also werde ich Sie mit allen Mitteln schützen, ob Sie wollen oder nicht, ob Sie dabei in Ohnmacht fallen oder nicht. Aber kommen Sie nicht auf die Idee, diesen Job oder mein Leben zu gefährden, bloß weil Sie überschnappen.“ Mit diesen Worten kam er auf sie zu und donnerte den Becher Tee vor ihr auf den Tisch. Prompt schwappte etwas über.
Ach, was war er doch für ein herzliches und empathisches Kerlchen. „Hören Sie, King, ich weiß, dass Sie die Situation ankotzt. Mich übrigens auch. Wahrscheinlich mehr als Sie. Denn das Arschloch, das seit über sechseinhalb Jahren meinen Alltag bestimmt, hat nicht nur mein Leben zerstört, es trachtet auch danach. Nicht nach Ihrem Leben. Ich habe es so satt, immer Angst zu haben, selbst gegen meinen Willen, immer umziehen und mir einen neuen Job suchen zu müssen. Denn eines steht mal fest: Ich. Bin. Nicht. Paranoid! Das wird Ryan Ihnen bestätigen können. Die Gefahr ist real. Also verzeihen Sie, wenn ich deswegen mehr als nur nervös bin und auch, dass ich nicht wie Sie an Waffen und in Selbstverteidigung ausgebildet bin.“ So ein selbstgerechtes Arschloch.
Für einen kurzen Moment machte sich ein erstaunter Ausdruck in Kings Gesicht breit. „Wow, das war bisher nicht nur Ihre längste Rede. Sie haben sich so in Rage geredet, dass Sie darüber sogar vergessen haben, Angst vor mir zu haben, und mich sogar noch zurechtgestutzt. Chapeau!“ Mit einem frechen Grinsen im Gesicht verneigte er sich minimal.
Toll, wie ernst er sie doch nahm. Hatte ja doch keinen Sinn! Sie erhob sich. „Danke für den Tee.“
Zurück im Zimmer fiel ihr auf, dass sie aufgrund ihres ‑ wie sie fand ‑ gerechten Zorns tatsächlich keine Angst vor ihm gehabt hatte. Sie hatte nicht mal mit der Wimper gezuckt, als er auf sie zugekommen war, um den Tee vor sie hinzuknallen.


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